Im Kontext des Jahresthemas „Landschaft“ im Kunstverein Neukölln beschäftigt sich die aktuelle Ausstellung mit unterschiedlichen Herangehensweisen einer „Kartografie des Stadtteils“. Es geht um historische, architektonische oder soziologische Fragestellungen.
Partizipative Kunst war und ist in Neukölln traditionell stark. Festivalformate wie 48hNK aber auch Förderkulissen vom QM über bezirkliche, senatsgeförderte oder bundesweite Projektfonds haben diese besondere Kunstform kontinuierlich gefördert. Der Kunstverein Neukölln zeigt nun eine Zusammenstellung von partizipativen Projekten, die sich seit 2006 mit dem urbanen und sozialen Umfeld Neuköllns beschäftigten und dabei auf ganz unterschiedliche Art und Weise die Bevölkerung eingebunden, aktiviert oder adressiert haben. Gezeigt werden Ergebnisse von partizipativen Prozessen, die auch und insbesondere Zeugnis geben von einem Wandel des Stadtteils.
Die älteren Projekte dokumentieren den Entstehungsprozess und stellen die visuell erfahrbaren Ergebnisse vor. In einem aktuellen, partizipativen Projekt können sich Besucher:innen aktiv beteiligen.
- Der kleine Tunnelpfeifer, 2016, Abbildung © Nora Fuchs
Im Zuge der Erneuerungsarbeiten am U-Bahnhof Leinestraße war es dem Forschungsteam um Martina Becker gelungen, eine bislang unbekannte Säugetierart zu entdecken: den Kleinen Tunnelpfeifer. Diese sensationelle Entdeckung warf nicht nur neue Fragen zur urbanen Biodiversität auf, sondern gab Anlass, die tiefgreifenden Veränderungen im Bezirk Neukölln aus einer ungewohnten Perspektive zu betrachten. Die Untersuchungen stützten sich maßgeblich auf die Beteiligung der Anwohnenden, Schüler:innen, Passant:innen und Künstler:innen rund um den U-Bahnhof Leinestraße. Alle, die Spuren oder Hinweise auf den Tunnelpfeifer fanden, waren eingeladen, diese auf der Forschungsplattform www.tunnelpfeifer.de zu dokumentieren. So entstand ein kollektives Bild dieser mysteriösen Spezies – und zugleich ein vielschichtiges Porträt des sich wandelnden Stadtteils. Der Tunnelpfeifer ist ein Sinnbild für jene Bewohner:innen und Lebensweisen, die im Zuge der Aufwertung an den Rand gedrängt oder unsichtbar werden.
- EIGENTLICH BIN ICH WIE DU, 2009, Abbildung © Hadmut Bittiger
Die Recherche von Hadmut Bittiger war geprägt von der Neugierde nach dem Potential kultureller Diversität in Neukölln: Was bedeutet es, wenn Kulturen aufeinandertreffen? Resultiert daraus eine zunehmende Abgrenzung und Verfestigung des Eigenen und des Anderen? Oder generiert es zunehmend Berührungspunkte, die zum Anfang eines dynamischen Miteinanders werden?
Hadmut Bittiger traf im Neuköllner Reuterquartier mit Menschen verschiedener Nationen zusammen – teils privat, teils an öffentlichen Orten oder in Migrant:innenvereinen – um sie nach ihren Erfahrungen und Möglichkeiten des Zusammenlebens zu befragen. Die Gespräche und Antworten zeichnete sie auf. Die dokumentierten Textbeiträge sind vielfältig und reichen vom Ausdruck des eigenen Nationalstolzes über Klagen bis hin zur Würdigung einer Teilhabe an zwei oder mehreren Kulturkreisen. Mit Hilfe von 48 Lautsprechern lassen sich Interviewteile nacheinander anhören – oder als Kakophonie gemeinsam zum Erklingen bringen.
- Thermochromic Hug, 2023, Polaroid-Foto, Abbildung © Livia Rauch
- Thermochromic Hug, 2023, Polaroid-Foto, Abbildung © Livia Rauch
- Thermochromic Hug, 2023, Polaroid-Foto, Abbildung © Livia Rauch
Die Arbeit „Thermochromic Hug“ von Livia Rauch ist in der Ausstellung durch Hilfsmittel und die Dokumentation der Performance, in der es im wörtlichen Sinne um soziale Wärme geht, präsent. Zu sehen sind ein für die Performance entworfenes Kleidungsstück, welches durch aufgedruckte, temperaturempfindliche Farbe Berührungen temporär sichtbar macht und Polaroids, die die Farbveränderungen und die Protagonist:innen dokumentieren.
Die Performance beinhaltet lange Umarmungen mit Freiwilligen. An jenen Stellen mit intensivem Berührungspotential beider Körper werden auf dem Stoff Spuren sichtbar. Nach der Umarmung kann ein Polaroid des Moments aufgenommen werden, bevor die Verfärbung im Stoff wieder verschwindet und die Berührung unsichtbar wird. Bei nicht zu warmen Temperaturen wird bei der Vernissage die Performance durchgeführt und dokumentiert.
- refresh, 2018 Abbildung © Peter Müller
Das Projekt „refresh“ der Gruppe riXXperiment widmete sich (altbekannten bzw. teils in Vergessenheit geratenen) Denkmälern und Skulpturen im öffentlichen Raum Neuköllns: Alte Neuköllner Originale wurden so zu neuen Originalen. Kunstwerke im öffentlichen Raum wurden durch Interventionen – von der subtilen Ergänzung, über einen performativen Umgang bis hin zum radikalen Neuentwurf – neu interpretiert. Die ausgewählten „Originale“ wurden als bewegtes Bild in einer geodätischen Kuppel ausgestellt und damit eine aktive Neuinterpretation aus beobachtender Distanz gewagt. Die Beobachtungsstation in Form der Kuppel war auf dem Herrfurthplatz vor der Genezarethkirche platziert. Zu sehen waren dort acht kurze Filmsequenzen von insgesamt 12 Künstler:innen, die die Neuinterpretationen der Denkmäler zeigten. Zudem konnten die Festivalbesucher:innen von den Orten der Neuinterpretationen per Video-Live-Chat Kontakt zur „Beobachtungsstation“ aufnehmen und so die aktuelle Situation übermitteln.
Teilnehmende Künstler:innen: Cornelia Bördlein & Carmen Loch, Alexander Farid, Olf Kreisel, Silvia Lorenz & Jamesdin, Peter Müller, Dachil Sado & Hatef Soltani & Marie Spannaus, Margund Smolka, Ommo Wille & Eva AM Winnersbach.
- Der große Plan, 2006, Abbildung © Ulrich Vogl
- Der große Plan, 2006, Abbildung © Ulrich Vogl
- Der große Plan, 2006, Abbildung © Ulrich Vogl
- Der große Plan, 2006, Abbildung © Ulrich Vogl
Im September und Oktober 2006 lief Ulrich Vogl mit einem Bauchladen und einem integrierten Sonnenschirm durch die Straßen des Neuköllner Körnerkiezes und bat die Bewohner:innen ihr eigenes Haus zu zeichnen. Viele Neuköllner:innen zeichneten ihr Haus direkt vor Ort oder spontan aus der Erinnerung heraus. Aus den einzelnen Zeichnungen entstand ein gemeinsamer Stadtplan der Gegend. Ungefähr 300 Gebäude wurden in der Folge nach dem Straßenraster der Gegend zu einem Plan zusammengebaut.
Die wenigen Häuser die fehlten, wurden stilisiert und für jeden erkennbar in den Plan eingefügt. Dieser Plan zeigt nun die Gegend und gibt gleichzeitig die Vielfalt der Personen wieder, die an dem Projekt teilgenommen haben. „Der große Plan“ aus dem Körnerkiez ist eine riesige Gemeinschaftszeichnung und als Zeichnung mit seiner Größe und als Destillat so unterschiedlicher Identitäten von vielen Beteiligten etwas völlig Neues und Außergewöhnliches.