Für ihre Ausstellung im Kunstverein Neukölln greifen Frauke Boggasch und Ayumi Rahn auf die legendären Darstellungen der einhundert Geister und Dämonen zurück, die in unterschiedlichsten Varianten seit Jahrhunderten in Japan existieren.
Die Mythologie der sogenannten Yōkai spielt bis heute in der traditionellen wie populären Kultur Japans eine große Rolle. In einer animistisch gedachten Welt ließen sich Yōkai wohl am ehesten als Verkörperungen des Unaussprechlichen begreifen. Sie können als böswillige Unheilstifter auftreten, als furchterregende Erscheinungen und strafende Dämonen, aber auch als wohlwollende Kreaturen. Als übernatürliche Wesen rufen sie ins Bewusstsein, wie sensibel und verletzlich das Gleichgewicht ist zwischen Mensch und Natur und zwischen dem Menschen und seinen Mitmenschen. Yōkai sind ebenso Ereignis, Existenz und Form. Sie stecken hinter seltsamen Vorfällen, unheimlichen Begegnungen und können unvermittelt in jeder Situation auftauchen. Sie dienen als Begründung für unerklärliche Erscheinungen und mysteriöse Phänomene.
Die Welt der Yōkai ist wunderschön und vielfältig und präsentiert sich am eindrucksvollsten in jener berühmt-berüchtigten Hyakki Yagyō, in der Nachtparade der einhundert Geister und Dämonen, auf die sich der Ausstellungstitel bezieht. Tatsächlich ist eine solche Nachtparade eine gar nicht mal so seltene Erscheinung: Für eine Nacht versammeln sich Yōkai von überall her und ziehen stundenlang gemeinsam durch die Straßen, führen dem ungläubigen Publikum in einer nicht enden wollenden Parade ihre Vielfältigkeit vor, ihre magischen Kräfte zur Verwandlung, ihre Lebendigkeit.
Frauke Boggasch und Ayumi Rahn haben sich zu Beginn der Coronazeit kennengelernt, und bei ihrem Kennenlernen haben auch Yōkai eine Rolle gespielt: so entstand aus einem Briefwechsel ein Austausch von Yōkai-Zeichnungen, ein künstlerischer Dialog, der bald ein Eigenleben zu führen begann. Zu den Yōkai, die den Austausch verschiedener Gedanken, Ängste und Wünsche weiterführten und vertieften, gesellten sich dreidimensionale Geistwesen hinzu – bis sich die Parade der einhundert Yōkai vervollständigt hatte und zu einer langen Nacht aufbrechen konnte.
Frauke Boggaschs Malerei bewegt sich zwischen Geste und Reflexion. Ausgehend von einer intensiven Beschäftigung mit literarischen Werken, Vorstellung und Realität des Künstler*innendaseins sowie dem Zeitgeschehen entwickelt sie Sujets, die eine Gratwanderung zwischen Imagination und Wirklichkeit widerspiegeln. Neben der Malerei beschäftigt sie sich mit Film, Musik und Text und interessiert sich insbesondere für japanische Underground-Kultur. Ihr Schreiben ist für sie eine Möglichkeit der Reflexion über Erlebtes und Erinnerung – und zugleich ein Mittel, um sich mit den Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten des Kunstfeldes auseinander zusetzen. Schreiben als Versuch, die Absurdität des Daseins zu verstehen.
Ayumi Rahn setzt sich in ihren Arbeiten mit der Beziehung des Abbilds zur Wirklichkeit auseinander. Sie interessiert sich für Brüche und Störungen in dieser Beziehung, die sich im Uneindeutigen und Merkwürdigen äußern.In ihrem Projekt InterViews untersucht Rahn den Dialog als Ausdrucksform. In Form von Künstler*innenheften behandelt InterViews, angelegt an klassische Befragungen, bestimmte Themen, unterwandert sie, führt sie in die entgegengesetzte Richtung oder verwandelt sie in etwas Anderes. Darüber hinaus bietet InterViews Raum für künstlerische Arbeiten und Rahmen für Zusammenarbeit und Dialog.
InterViews Heft 13 „Faltungen“ entstand im Zusammenarbeit mit Frauke Boggasch und erkundet in zwei autobiographischen Texten unterschiedliche Deutungs- und Interpretationsmöglichkeiten des Begriffes „Faltungen“ innerhalb der Dimensionen von Herkunft und Vergangenheit, Gleichzeitigkeit und Gegenwart.
Das Release findet statt im Rahmen der Eröffnung von night parade, am 19.11. 21., 19 Uhr.
Kuratiert von Peter Hock und Susann Kramer.